Kofi Annan in Tübingen, 12. Dezember 2003 auf Einladung von Prof. Küng

"GIBT ES NOCH UNIVERSELLE WERTE?"
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Ich will Sie nicht auf die Folter spannen und Ihnen vorweg verraten, dass meine Antwort "Ja!" lautet. Die Werte des Friedens, der Freiheit, des sozialen Fortschritts, der Gleichberechtigung und der Menschenwürde, die in der Charta der Vereinten Nationen und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert sind, besitzen heute nicht weniger Gültigkeit als vor mehr als einem halben Jahrhundert, als diese Dokumente von den Vertretern vieler verschiedener Nationen und Kulturen verfasst wurden.

Die Umsetzung dieser Werte in die Realität menschlichen Verhaltens war zur damaligen Zeit keineswegs besser als heute. ... Die Wertvorstellungen unserer Gründer sind auch heute noch nicht vollständig verwirklicht. ... Aber sie werden heute viel weitgehender akzeptiert als noch vor wenigen Jahrzehnten. ...

Dies gilt für örtliche Gemeinwesen ebenso wie für Staatsgemeinschaften. Heute, da die Globalisierung uns alle einander näher bringt ... empfinden wir auch die Notwendigkeit, in einer globalen Gemeinschaft zu leben. Wir können dies nur tun, wenn wir über globale Werte verfügen, die uns verbinden.

Die Ereignisse der jüngsten Zeit haben jedoch gezeigt, dass wir unsere globalen Werte nicht als selbstverständlich betrachten können. ... In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verkünden wir, dass "jeder das Recht auf einen Lebensstandard hat, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen". ... Viele Millionen Menschen auf der Welt sind heute weit davon entfernt, diese Rechte in der Praxis ausüben zu können. ...

Es gilt daher nunmehr, unseren universellen Werten erneut Geltung zu verschaffen.

Wir müssen den kaltblütigen Nihilismus von Attentaten, wie sie am 11. September 2001 gegen die Vereinigten Staaten begangen wurden, entschlossen verurteilen. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass solche Anschläge einen "Zusammenprall der Kulturen" provozieren, in dem Millionen Menschen aus Fleisch und Blut einer Schlacht zwischen zwei Abstraktionen - dem "Islam" und dem "Westen" - zum Opfer fallen, als ob islamische und westliche Werte unvereinbar wären. - Sie sind es nämlich nicht, wie Ihnen die Millionen gläubiger Muslime, die hier in Deutschland und anderswo auf der Welt leben, als erste versichern würden. ...

<Es> folgt, dass keine Religion und kein ethisches System je wegen moralischer Entgleisungen einiger ihrer Anhänger verurteilt werden sollten. Wenn ich als Christ beispielsweise nicht will, dass mein Glaube nach den Handlungen der Kreuzritter oder der Inquisition beurteilt wird, muss ich auch selbst sehr vorsichtig sein, um nicht den Glauben eines anderen nach den Handlungen zu beurteilen, die einige wenige Terroristen im Namen seines Glaubens begehen. Unsere universellen Werte verlangen von uns auch, dass wir die menschlichen Eigenschaften, sowohl die guten als auch die schlechten, die wir mit allen unseren Mitmenschen gemein haben, anerkennen und dass wir die gleiche Achtung vor der Menschenwürde und der Sensibilität der Angehörigen anderer Gemeinschaften zeigen, die wir auch von ihnen erwarten. ...

So sollten zum Beispiel Muslime nicht geschmäht oder verfolgt werden, weil sie sich etwa mit den Palästinensern, den Irakern oder den Tschetschenen identifizieren - .... Und wie heftige Empfindungen die Handlungen des Staates Israel bei manchen von uns auch hervorrufen mögen, wir sollten stets das Recht der israelischen Juden achten, in Sicherheit innerhalb der Grenzen ihres eigenen Staates zu leben, und das Recht aller Juden, diesen Staat als Ausdruck der Identität und des Überlebens ihres Volkes hoch zu achten.

Wenn es aber falsch ist, einen bestimmten Glauben oder ein bestimmtes Wertsystem wegen der Handlungen oder Aussagen einiger seiner Anhänger zu verurteilen, dann muss es ebenso falsch sein, den Gedanken, dass gewisse Werte universell sind, aufzugeben, nur weil einige Menschen diese Werte nicht zu akzeptieren scheinen. ... Wir müssen imstande sein zu sagen, dass bestimmte Handlungen und Überzeugungen nicht nur unseren eigenen sittlichen Vorstellungen zuwiderlaufen, sondern von allen Menschen verworfen werden sollten.

... Wir mögen uns alle aufrichtig zur Gewaltlosigkeit und zur Achtung vor dem Leben bekennen und können doch unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob es legitim ist, Menschen zu töten, die selbst getötet haben, oder Gewalt anzuwenden, um Unschuldige zu verteidigen, denen Gewalt angetan wird.

Wir mögen alle aufrichtig für Solidarität mit unseren Mitmenschen und für eine gerechte Wirtschaftsordnung eintreten und doch keine Einigung darüber erzielen können, mit welcher Politik eine solche Wirtschaftsordnung am besten verwirklicht werden kann.

Wir mögen uns alle der Toleranz und der Wahrheitstreue tief verbunden fühlen und uns doch nicht darüber einigen, wie tolerant wir gegenüber Staaten oder Systemen sein sollen, die uns intolerant und verlogen erscheinen.

Und wir mögen alle aufrichtig für Gleichberechtigung und Partnerschaft zwischen Mann und Frau eintreten, ohne uns darüber einig zu sein, wie weit die gesellschaftliche Rollenverteilung von Männern und Frauen gehen soll oder ob es Aufgabe der Gesellschaft ist, die Heiligkeit der Ehe zu gewährleisten.

Bei allen diesen Fragen ist zu erwarten, dass die Meinungsverschiedenheiten noch lange andauern werden - ... Universelle Werte haben nicht den Zweck, alle derartigen Differenzen zu beseitigen, sondern uns vielmehr dabei zu helfen, sie unter gegenseitiger Achtung und ohne gegenseitige Zerstörung zu bewältigen.

Toleranz und Dialog sind unverzichtbar, da es ohne sie keinen friedlichen Austausch von Ideen und keine Möglichkeit gibt, zu einvernehmlichen Lösungen zu gelangen, die es unterschiedlichen Gesellschaften gestatten, sich auf ihre eigene Weise weiterzuentwickeln. ...

Werte sind nicht dazu da, um Philosophen oder Theologen zu dienen, sondern um den Menschen bei der Gestaltung ihres Lebens und bei der Organisation ihrer Gesellschaften behilflich zu sein. ...

Letztendlich wird uns die Geschichte nicht nach unseren Worten, sondern nach unseren Taten beurteilen. Diejenigen, die gewisse Werte am lautesten predigen - wie die Werte der Freiheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz -, haben eine besondere Verpflichtung, in ihrem eigenen Leben und in ihren eigenen Gesellschaften nach diesen Werten zu leben und sie gleichermaßen auf ihre Feinde wie auf ihre Freunde anzuwenden. ...

Wir sollten auch nie mit den Dingen zufrieden sein, wie sie sind. Der Zustand der Welt lässt dies nicht zu. ...

Menschenrechte und universelle Werte sind nahezu synonyme Begriffe ... Sie ziehen entsprechende Pflichten nach sich, und Pflichten sind nur dort sinnvoll, wo sie erfüllt werden können. "Sollen setzt Können voraus."

Wie lautet also die Antwort auf die provokative Frage, die ich als Titel meiner Rede gewählt habe? Gibt es noch universelle Werte? Ja, es gibt sie, aber wir dürfen sie nicht für selbstverständlich halten.

Sie müssen sorgfältig durchdacht, sie müssen verteidigt, und sie müssen gestärkt werden.

Und wir müssen in uns selbst den Willen finden, nach den Werten zu leben, die wir verkünden - in unserem Privatleben, in unseren lokalen und nationalen Gemeinwesen und in der Welt.

Ich danke Ihnen.

(Auszüge; die vollständige Rede finden Sie unter http://www.weltethos.org/st_2_xx/s_3202.htm)